Im Jahr 2007 gründete ein großer schwedischer IT-Konzern in Estland eine Nearshoring-Tochtergesellschaft für Softwaretests, um von den günstigeren Dienstleistungen und dem hochqualifizierten Pool estnischer IT-Talente zu profitieren. Als sich der Fokus mehr auf die Softwareentwicklung verlagerte, beschloss die Geschäftsführung der Tochtergesellschaft, einen gewagteren und unabhängigen Weg einzuschlagen, indem sie die börsennotierte Muttergesellschaft davon überzeugte, einem Management-Buy-out zuzustimmen. So erwarben 2018 der CEO des estnischen Unternehmens Andres Aavik und der Business Development Manager Juhan-Madis Pukk die Anteile der Tochtergesellschaft vom schwedischen Konzern Knowit AB und nahmen einen neuen Firmennamen an: Flowit Estonia OÜ. So wurde aus Knowit Flowit – ein zu 100 % estnisches Unternehmen mit einem klaren Fokus auf Software-Robotik, d. h. auf robotergestützte Prozessautomatisierung.
Heute besteht das Kerngeschäft von Flowit in der Entwicklung maßgeschneiderter Softwareprodukte für eine Vielzahl von Kunden aus den unterschiedlichsten Geschäftsbereichen. In den Anfängen der Selbstständigkeit arbeitete Flowit jedoch eng mit Logistik- und Produktionsunternehmen zusammen, um sie bei der Digitalisierung ihrer Prozesse durch digitale Diagnosen zu unterstützen, z. B. welche Software für welchen Zweck eingesetzt werden sollte. Schließlich erkannten sie, dass es den Herstellern an ausgefeilten Selbstbedienungsumgebungen für Reklamationen und andere Kundenkommunikation mangelt, was den Weg für die Entwicklung des ersten Softwareprodukts unter der Marke Flowit ebnete.
Die Optimierung komplexer Geschäftsprozesse führte Flowit schließlich zum maschinellen Lernen. Juhan Pukk betont, dass es beim maschinellen Lernen weder darum geht, einem Computer beizubringen, Bilder von Katzen visuell zu identifizieren, noch um etwas ähnlich Triviales. „Einer unserer größten Durchbrüche kam, als wir mit dem Logistikunternehmen DSV zusammenarbeiteten, welches über eine riesige Menge an Daten verfügt, die alle in einem einzigen Arbeitsblatt gesammelt wurden. Auf der Grundlage dieser Daten haben wir eine Lösung entwickelt, die es dem Unternehmen ermöglichte, Kunden mit vorgefertigten Angeboten anzusprechen, bevor der Kunde überhaupt danach gefragt hat. So haben wir uns in die Welt der prädiktiven Analytik vorgewagt“, erinnert sich Pukk und fügt hinzu, dass die Intuition oder das Bauchgefühl eines Verkäufers zwar eine gute Eigenschaft ist, konkrete Daten jedoch einen weitaus besseren Input für das Kundenengagement liefern. Die Kunden sind dann verblüfft über die unaufgeforderten, aber bemerkenswert genauen Angebote, von denen sie gar nicht wussten, dass sie sie benötigen.
Viele haben versucht, maschinelles Lernen für ihre Prozesse einzusetzen, aber nur wenigen ist dies gelungen. „Es ist ein hochwissenschaftliches Gebiet, und genau darin liegt das Problem: Die Wissenschaft strebt immer nach maximaler Zuverlässigkeit der Vorhersagen und gibt sich nicht mit weniger als 100 % zufrieden, aber Unternehmen können bereits mit einer Genauigkeit von 70 % bei der prädiktiven Analyse einen Wettbewerbsvorteil erlangen“, bemerkt Pukk und fügt hinzu, dass die Wissenschaft scheinbar auf ein Ziel hinarbeitet, welches nicht unbedingt dem ROI des Unternehmens entspricht. „Wir müssen ein Gleichgewicht zwischen diesen beiden Welten finden und verstehen, dass selbst ein 20-prozentiges Risiko des Scheiterns nicht als gescheiterter Versuch im Sinne der Wirtschaft angesehen werden sollte. Bei Flowit arbeiten wir eng mit Universitäten zusammen und versuchen, den wissenschaftlichen und den kommerziellen Ansatz der prädiktiven Analytik miteinander in Einklang zu bringen. Wir validieren die Ziele und Bedürfnisse des Kunden, bevor wir das Projekt in Angriff nehmen, und wissen genau, welcher Algorithmus wo anzuwenden ist, was die Risiken noch weiter verringert.“
Pukk gibt zu, dass es immer noch viele Mythen um künstliche Intelligenz und maschinelles Lernen gibt. „Erstens gibt es die Erwartung, dass KI etwas ist, das selbstständig ein Problem entdecken und sofort eine Lösung anbieten kann. Dies ist keine realistische Erwartung und technologisch sind wir noch Lichtjahre von diesem Niveau entfernt. Ein weiterer Mythos ist, dass die Implementierung von maschinellem Lernen viel Zeit in Anspruch nimmt. Durch das Ausräumen dieses Missverständnisses haben wir tatsächlich unseren ersten großen Kunden in Deutschland gewonnen“, so Pukk. Die Krönung der Expansion von Flowit auf den deutschen Markt war die Gewinnung des Automobilherstellers Daimler als Kunden. Der deutsche Industrieriese war unzufrieden damit, dass die meisten Softwareprojekte für maschinelles Lernen 1 bis 2 Jahre für die Implementierung benötigen. Dann kam Flowit ins Spiel und schaffte es, den Implementierungszyklus auf nur 2 Monate zu verkürzen, wodurch der Automobilhersteller seinen Innovationsvorsprung bewahren konnte.
Die Kernkompetenz von Flowit liegt neben maschinellem Lernen und prädiktiver Analytik in der Entwicklung von Selbstbedienungsumgebungen. „Wir sehen heute eine Reihe von Unternehmen, die den Benutzeroberflächen und dem allgemeinen Benutzererlebnis mehr Aufmerksamkeit schenken. Deshalb ist unser Markenzeichen unser Fokus auf Benutzerfreundlichkeit. Etwa 15–20 % unserer Entwicklungszeit für Softwareprodukte verbringen wir mit maschinellem Lernen, bei den restlichen 80 % geht es jedoch weiterhin darum, Prozesse zu vereinfachen und das Produkt für die Kunden benutzerfreundlich zu gestalten und es so simpel wie nötig zu halten“, erklärt Pukk.
Große Unternehmen sind es gewohnt, mit Closed-Box-Softwarelösungen zu arbeiten, die wenig Raum für zusätzliche Anpassungen oder Entwicklungen lassen. Flowit unterscheidet sich hier, da es seine Softwareprodukte auf Open-Source-Plattformen und -Bibliotheken aufbaut, die ein höheres Maß an Flexibilität bei der Anpassung des Endprodukts an die spezifischen Bedürfnisse des Kunden oder künftige Upgrades ermöglichen. „Aber ohne Kompromisse bei der Sicherheit – die Sicherheitsprotokolle unserer Software sind auf dem gleichen Niveau wie die von Großbanken. Sicherheit kann Innovationen hemmen, aber es gibt immer kreative Wege, solche Beschränkungen zu umgehen“, findet Pukk. Ein weiterer wichtiger Vorteil für Flowit ist die Transparenz der Projektbudgets. „Es gibt keine versteckten Kosten. Der Kunde bekommt das Produkt immer zum angegebenen Preis und die Projekte werden immer pünktlich geliefert. Dies ist der Eckpfeiler unserer Arbeitsethik, und wir gehen dabei keine Kompromisse ein“, betont Pukk.
Unternehmen aus allen Branchen investieren heutzutage mehr Zeit in die Analyse ihrer Aktivitäten, bevor sie Softwareprojekte in Angriff nehmen, was Pukk begrüßt. „Die Einstellung, dass alles sofort erledigt werden muss, ist nicht mehr vorherrschend, man strebt stattdessen nach Effizienz. Die Kunden sollten bei der Inbetriebnahme einer neuen Software immer ihre Geschäftsziele und ihre Investitionsrendite im Auge behalten.“ Je mehr Führungskräfte sich der technologischen Möglichkeiten bewusst sind, desto wahrscheinlicher ist es, dass sie ihre Ziele erreichen, wie die Steigerung des Umsatzes oder die Verringerung von Ausfällen bei E-Commerce-Lösungen. „IT oder Digitalisierung sind jedoch nur ein Teil des Werkzeugkastens. Man kann die Bedeutung von Marketing, Branding und Vertrieb nicht hoch genug einschätzen, um ein Unternehmen voranzubringen. Einfache Lösungen sind oft komplexer und zeitaufwendiger als die Entwicklung eines digitalen Ungetüms, das monatelange Trainings erfordert. Unsere Systeme sind so konzipiert, dass eine zehnminütige Online-Anleitung ausreichend ist, um die Nutzer mit der Software vertraut zu machen.“
Obwohl der Erfolg auf den Exportmärkten immer viel Aufwand und Planung erfordert, ist es Flowit buchstäblich gelungen, einige bemerkenswerte Kunden zu gewinnen. „Der deutsche Markt war uns eine Herzensangelegenheit und wir haben eng mit Enterprise Estonia zusammengearbeitet, um unsere dortige Präsenz auszubauen. Der deutsche Markt ist unglaublich attraktiv – ein Markt, in den man nur schwer einsteigen kann, den man aber nicht mehr verlassen kann, wie wir sagen. Es ist wichtig, präsent zu sein, zu interagieren und durch persönliche Kontakte Vertrauen zu gewinnen.“ Solch ein Glücksfall ereignete sich bei einem KI-Seminar im Hamburger ARIC e. V., wo Pukk die Ehre hatte, als Botschafter von Flowit aufzutreten. Nach seinem Vortrag im Rahmen einer Podiumsdiskussion, an der estnische Regierungsvertreter und deutsche Unternehmer teilnahmen, stolperte Pukk versehentlich über den Teppich und stieß mit einem örtlichen Geschäftsmann zusammen, der Pukk ein Kompliment für die Ehrlichkeit seines Vortrags machte. Der besagte Geschäftsmann entpuppte sich als Vorstandsmitglied des weltgrößten Mikrochip-Herstellers Nexperia, den Flowit seither mit Softwarelösungen unterstützt! Weitere namhafte Kunden neben Daimler und Nexperia sind Nasdaq, Telia und der Chemiekonzern Linde Group.
Pukk ist außerdem Präsident des estnischen IKT-Verbandes und kennt die Stärken und besonderen Fähigkeiten anderer estnischer IT-Unternehmen. „Ich kann estnische IT-Unternehmer und -Ingenieure nur als erstaunlich erfinderische und ergebnisorientierte Fachleute beschreiben, die gerne über den Tellerrand hinausschauen und unermüdlich daran arbeiten, ihre gesetzten Ziele zu erreichen.“ Die Esten werden auch als resiliente und konsequente Geschäftspartner beschrieben, die großen Wert auf eine brutal ehrliche Kommunikation mit den Kunden legen. „Bei jedem Entwicklungsprojekt gibt es nur drei Dinge, die völlig schiefgehen können: Kommunikation, Kommunikation und Kommunikation. Es ist wichtig, das Geschäft des Kunden zu verstehen und auf seiner Ebene mitzudenken. Wer nur technische Lösungen anbietet, ist zum Scheitern verurteilt. Man muss auch das große Ganze im Blick haben. Wenn Sie wollen, dass etwas richtig gemacht wird und benutzerfreundlich bleibt – dann willkommen in Estland!“
Wie ist es, mit Estland Handel zu treiben? Wie kann man von den E-Lösungen und der Effizienz der estnischen Unternehmenskultur profitieren? Welche Chancen bieten die einzelnen Branchen?
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